Auf, auf zum Kampf?
Lieder der deutschen Arbeiterbewegung und ihre Aktualität
Von Hartmut Fladt*
Mehr als ein nur historisches Interesse wird gegenwärtig dem Arbeiterlied in der Regel nicht zugebilligt. Auch die angestrebte Anerkennung als Weltkulturerbe** zielt in diese Richtung. Mit der Gründung der Arbeitersänger-Vereine entstanden im 19. Jh. spezifische soziale und politische Funktionen des Singens; nach den Verboten politischer Betätigung durch die Sozialistengesetze Bismarcks (1878) waren diese Vereine Refugien weit über eine nur künstlerische gemeinschaftliche Betätigung hinaus. Aber: Dabei knüpfte man im eigenen Kampf an Kulturen des Widerstandes an, die bis heute als lebendig berührend erfahrbar sind. Sie bewahren in sich Konflikte der Menschheitsgeschichte auf. Die neuen Funktionen der Lieder hatten unmittelbare Auswirkungen auf ästhetische Entscheidungen: Ein musikalisch vertrautes Repertoire wurde im Text, bisweilen auch in der Musik verändert.
Solche sehr alten Verfahren sind immer noch aktuell: Geschichte ist dann nicht „tote“ Vergangenheit, wenn sie als gesungene exemplarisch erlebbar bleibt. Das betrifft den Choral als „Marseillaise des 16. Jahrhunderts“ (Friedrich Engels), Lieder der Bauernkriege; schon im Bauernkrieg wurden Choräle umgetextet, eine Tradition, die über Adaptionen des 19. Jahrhunderts bis zu den satirischen „Hitler-Chorälen“ von Bertolt Brecht reicht.
Volkslieder und Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters (Steinitz) wurden neu textiert, ebenso ursprünglich während der Arbeit gesungene Arbeitslieder. Das Er-Leben und zugleich ungeschminkte Besingen der Realität gehörte zur Kultur des Volkslieds, bevor es im 19. Jahrhundert zu dem verkam, was wir heute in den Medien erleben: volkstümliche Kunstmusik, in der dem Volk vorgeschrieben wird, wie es zu sein hat – beschränkt, herzig, „tümlich“. An die Steinitz-Sammlung knüpfte auch die Erneuerungsbewegung des authentischen Volkslieds in den Siebziger- und Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts an. Umtextiert wurden auch Hymnen wie u. a. die Marseillaise, und im „Vormärz“ gab es dann endlich neu komponierte politische und Freiheits-Lieder; Heinrich Heine spottete: „Der Knecht singt gern ein Freiheitslied / des Abends in der Schenke: das fördert die Verdauungskraft und würzet die Getränke“. „Bürgerliche“ Komponisten wie Liszt, v. Bülow und Schönberg schrieben Lieder für diesen sozialen und politischen Aufbruch.
In den USA entstehen die Blues-Vorläufer („Worksongs“ der Sklaven bzw. der Inhaftierten bei der Zwangsarbeit); an sie, ebenso an die „weißen“ Folk- und Arbeiterliedtraditionen knüpfen im 20. Jahrhundert Woody Guthrie und Pete Seeger an, für deutsche Liedermacher seit den Sechzigern wichtige Vorbilder. Das Singen internationaler Gewerkschafts- und Widerstandslieder zeigt in Deutschland die Tendenz zu „geliehenen Gefühlen“. Im kollektiven Singen von Parteien und Gewerkschaften heute ist das Repertoire auf „Brüder, zur Sonne“ und „Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘“ zusammengeschrumpft; bisweilen erklingt „We Shall Overcome“ oder sogar eine verschämte Internationale.
In Anlehnung an Kategorien von Inge Lammel (Das Arbeiterlied) nun eine systematische Typologie von Arbeiterliedern: Wie wirken sich die unterschiedlichen Funktionen auf Gesten, Haltungen, Emotionen und die eingesetzten musikalischen Mittel aus? Das Marschlied hat agitatorischen und programmatischen Charakter: „Bet‘ und arbeit‘! ruft die Welt“ und „Dem Morgenrot entgegen“ sind einstimmige Massenlieder, gesungen auf Arbeiterveranstaltungen und Demonstrationen. Artifizieller das „Solidaritätslied“ und das „Einheitsfrontlied“ von Brecht und Eisler als neuer, rasch-lebhafter Marschtypus: Wer marschiert wie und wofür? Getragene Arbeiterhymnen wie „Unsterbliche Opfer“ und „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ werden, als einstimmiges Massenlied oder mehrstimmiges Chorlied, zu besonderen Anlässen und proletarischen Feierstunden gesungen (bisweilen, wie in der Internationale, mit unfreiwillig komischer Metaphorik: „...dann scheint die Sonn’ ohn’ Unterlass...“). Das episch-balladeske Lied, im erzählenden Stil, ist in Sprache und Gestaltung dem epischen Volkslied nahestehend: „Das ist des Arbeitsmannes Los“ und „Leunalied“, KZ-Lieder wie „Das Lied der Moorsoldaten“. Das lyrische Lied oder Gefängnislieder wie „Im tiefen Kerker“ werden oft für proletarische Helden gesungen. Politisch-satirische Songs verspotten Obrigkeiten mit Herrschafts-Anmaßung und Unterdrückung, geistlich, sozial oder politisch (auch kritische Satire in den ehemaligen sozialistischen Ländern): „O Tannenbaum, der Kaiser hat in’ Sack gehaun“, „Zehn kleine Meckerlein“ (Dachau-KZ-Lied). Das aktuell-politische Tageslied mit agitatorischem Charakter ist, oft als satirische Parodie, kurzlebig. Das neu komponierte Chorlied der Arbeiter-Sängerbewegung und der nachfolgenden Chorbewegung schließlich zeigt eine Vielfalt bis hin zu professionell-artifiziellem Anspruch. Ein solcher in sinnliche Anschaulichkeit umsetzbarer Reichtum des Wissens ermöglicht neue Zugangsweisen zu den Genres des Arbeiterliedes.
Es ist ein normaler Weg in Volksliedern, wenn Melodien umtextiert werden (Kontrafaktur- oder auch Parodieverfahren). Melodien „wandern“, etwa von einer Sprache, Ethnie mit ihrer spezifischen Kultur zur anderen, und dabei verändert sich nicht nur der Text, sondern auch die musikalische Faktur, die vom neuen kulturellen Umfeld adaptiert wird. Exemplarisch vier Schritte, hier konkret in „Auf, auf zum Kampf“: vom Küchenlied bzw. der Moritat im früheren 19. Jahrundert zum Soldatenlied im I. Weltkrieg; das wird dann revolutionär „rot angestrichen“ und ist danach problemlos auch „braun anstreichbar“.
1 ...das Mäd-chen hátt’-- die Unschuld schon verloooren...
2 ...dem Kai-ser Wíl---helm haben wir’s geschwoooren...
3 ...dem Karl Liebknécht, dem haben wir’s geschwoooren, der Rosa Luxemburg...
4 ...dem A - dolf Hít----ler haben wir’s geschwoooren...
Dieses Geschwöre trottet rhythmisch dumpf vor sich hin und benutzt harmonisch-melodisch nur Klischees der Trivialmusik des Biedermeier, ist dadurch leicht zu missbrauchen. Ein solches Umstreichen haben die Nazis (der linke Strasser-Flügel der SA) auch mit Eisler versucht (aus dem Roten wurde der Braune Wedding) – das ist kläglich gescheitert. Schon die Rhythmik: Synkopen, off-beats aus dem verpönten Jazz, und dann der ominöse 5/4-Takt bei „Rot Front“ – ein Stolperstein bis zum heutigen Tage, der gern glatt gebügelt wird (bzw. den einige Ausgaben gar nicht haben). All das waren Maßnahmen Eislers gegen den dumpfen Trott des Marschierens. Parodie- und Kontrafaktur-Verfahren, mit Eingriffen auch in die Musik, sind bis heute probate Mittel des Aktualisierens.
Ein „Staatstragendes Arbeiterlied“: ein Widerspruch in sich. Aber wir haben es ja schon bei den rot angestrichenen Küchen- und Soldatenliedern gesehen: Widerständigkeit, Kritik und selbstbestimmte Selbstkritik (also nicht die stalinistische) konnten schon da auf der Strecke bleiben und einer blinden Affirmation geopfert werden. Brecht und Eisler zu Beginn der Dreißigerjahre im Lob der Dialektik („Die Mutter“): Wenn die Herrschenden gesprochen haben, werden die Beherrschten sprechen – na, und dann? – fragen hämisch alle, die mit Hegels und Marxens Herr-Knecht-Dialektik vertraut sind. Das Sichere ist nicht sicher – so wie es ist, bleibt es nicht. Das hatte in der Bundesrepublik, ebenso in der DDR eine eigentümliche Sprengkraft.
Als 1972 in (West-)Berlin der Hanns Eisler Chor gegründet wurde, gab das einige Impulse zu einer kritischen Rückbesinnung auf eine Tradition, die von Tabus eingezäunt war. Ich kam ein Jahr später dazu, und zwar als ein Komponist, der keine Lust mehr hatte, nur für kleine Zirkel der Avantgarde zu schreiben, außerdem als ein Komponist und Musikwissenschaftler, der durch 68 heftig politisiert war.
Von der Illusion, die Arbeitermusikbewegung erneuern zu können, habe ich Abschied nehmen müssen – schon deswegen, weil es die Arbeitermusik-Bewegung nie gegeben hat, sondern sehr unterschiedliche Versuche, eine eigene Musikkultur zu schaffen, die mit den Qualitäten der großen „bürgerlichen“ Musik einigermaßen vergleichbar war. Und: man bekämpfte sich intern in den Zwanzigern und frühen Dreißigern so lang, bis die Nazis dann von außen eine Zwangsannäherung verursachten.
Was war seit den Siebzigern das große Anliegen? Kritisch, selbstkritisch, undogmatisch offen sein, trotzdem engagiert; immer fragen: Für wen mache ich was warum? Keine Automatismen des Musikbetriebs. Beim Eisler-Chor war das Singen von Arbeiterliedern eher die Ausnahme; die rot angestrichenen Küchen- und Soldatenlieder fehlten völlig im Repertoire. Kritische und engagierte Kunst zu produzieren, die auch von musikalischen Laien verstehbar und aufführbar war – das ist ein wesentlicher Motor gewesen.
Gibt es ein Arbeiterlied der Gegenwart? Nein, denn eine Arbeiterkultur existiert nicht mehr, doch sie kann, als in ihren Liedern bewahrte lebendig-widersprüchliche Geschichte, neu erlebbar gemacht werden. Darüber hinaus gibt es viele Äquivalenzen, im Bereich der Pop- und Rockmusik mit ihren vielen Facetten, in der Chorbewegung, im Kabarett, auf der Bühne, in Revuen, in den Medien. Die Friedensbewegung und die Anti-AKW-Bewegung brachten neue Impulse. Kritische Musik, politische Musik wird selbstverständlich immer noch geschrieben, nur nicht mehr in der Gattung „Arbeiterlied“. Aber: auch dieses Sichere ist nicht sicher. Das Lob der Dialektik lebt.
* Prof. Dr. Hartmut Fladt, aus Detmold, studierte dort Komposition, in Berlin Musikwissenschaft, Philosophie, Literaturwissenschaft; Promotion bei Carl Dahlhaus. Editor bei der Richard-Wagner-Gesamtausgabe (4 Bände); seit 1981 Professur (Musiktheorie) an der Universität der Künste Berlin, 1996-2000 auch an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Habilitation Musikwissenschaft. Im Vorstand der Eisler-Gesellschaft, im Editionsbeirat der Hanns-Eisler-Gesamtausgabe, Mitglied des Hanns Eisler Chors Berlin. Ca. Achtzig Publikationen über Musik des 13. - 21. Jahrhunderts. Regelmäßige Rundfunk-Beiträge auch über Popularmusik und ihre Vermittlung. Komponierte Bühnenwerke, Ballett-, Kammer-, Chormusik, elektroakustische Musik, Lieder, Orchesterwerke, „angewandte Musik“, darunter auch Filmmusik, Kabarett-Musik.
** Die Initiative „Lieder der deutschen Arbeiterbewegung als immaterielles Kulturerbe“ hat im vergangenen November einen Antrag zur Aufnahme der Lieder der deutschen Arbeiterbewegung in das immaterielle Kulturerbe Deutschlands beim Kultusministerium in Nordrhein-Westfalen eingereicht.